Wenn Frauen schreien und Männer weinen
Nina Dinkelmeyer | 5/24/2013 | Die Welt
Fußball ist irrational, unplanbar. Er ist extremer und kompromissloser als das echte Leben. Genau deshalb bin ich ihm verfallen, unrettbar. Als Frau muss man diese Leidenschaft rechtfertigen.
Ich werde das Jahrhundertfinale verpassen. Wenn der FC Bayern und Borussia Dortmund in Wembley um den Champions-League-Pokal spielen, werde ich in einem Flugzeug 10.000 Meter über dem Atlantischen Ozean sitzen. Ohne Fernseher. Ohne Internet. Ohne Radio. Ohne Handyempfang. Ich werde in dem Sessel hin und her rutschen, meine Hände werden kalt sein und mein Puls laut – denn ich werde isoliert sein.
Viele meiner Freundinnen können das Drama, in dem ich als Bayern-Fan stecke, nicht nachempfinden. Einige Männer genauso wenig. Doch was wären wir ohne Fußball? Ohne Meisterschaftskrimis und nervenaufreibende Endspiele?
Ich bin da irgendwie reingerutscht. Den Lieblingsverein suchen sich die wenigsten rational aus. Meine Mama ist Bayern-Fan, seit sie 16 war. Aus vollem Herzen. Mein Papa hingegen leidet mit dem “Club” aus meiner Heimatstadt. Als der 1. FC Nürnberg zum letzten Mal Deutscher Meister wurde, war er sechs.
Ich war schon immer beides, auch wenn mein Bayern-Herz stärker schlägt. Dafür muss ich mir oft Spott anhören: “Der Club und die Bayern – man sieht, dass du von Fußball keine Ahnung hast.” Um die Faszination des Sports zu erklären, dürfte so mancher Fan sagen: “Fußball ist nicht nur ein Spiel.” Aber um die Begeisterung zu verstehen, ist die Tatsache, dass Fußball ein Spiel ist, essenziell.
Fußball ist emotionaler Stress
Warum ist es so dramatisch, das Finale nicht live zu erleben? Der einfachste Grund dürfte dieser sein: weil der Ausgang eines Spiels offen ist. Fußball ist irrational, völlig unplanbar.
Ich bin Perfektionist; Kontrolle ist mir wichtig. Aber bei einem Fußballspiel bleibt mir nichts anderes übrig, als mich 90 Minuten lang fallen zu lassen. Das ist wie Tanzen zu meinem Lieblingssong. Nur, dass nicht die Bässe auf meiner Haut kribbeln, sondern die Fan-Gesänge aus der Kurve.
Trotzdem ist Fußball emotionaler Stress für mich. Ich kann nicht still bleiben, ich muss quietschen, ich muss schreien. Denn das Spiel schreibt seine spannendsten Geschichten selbst; dazu braucht es kein Drehbuch. Der FC Bayern spielte eine perfekte Saison – und doch kann er in Wembley als Verlierer vom Platz gehen.
Abstieg in letzter Minute
Nürnberg galt damals ja auch als gerettet. Damals, das war im Abstiegskampf 1999. Damit Nürnberg absteigt, musste Rostock gegen Bochum gewinnen. Und gleichzeitig Frankfurt gegen Kaiserslautern. Zudem musste die Eintracht eine Differenz von fünf Toren gegenüber dem FCN gutmachen. Das schien unmöglich. Ich, zwölf Jahre, mit Pferdeschwanz und Streifenrock, saß mit Papa und kleiner Schwester im Unterrang. Auf der Anzeigetafel kündigten sie schon die “Klassenerhaltsfeier” an.
Fünf Minuten vor Schluss liegt der Club 2:1 gegen Freiburg hinten. Von Party keine Spur. Trotzdem: Der FCN scheint gerettet. Hinter uns hält sich ein schmächtiger Mann ein Radio ans Ohr. In der letzten Minute kommt es, wie es kommen muss: Frank Baumann vergibt für Nürnberg eine hundertprozentige Torchance.
Hinter uns Unruhe. “Tor für die Eintracht”, schreit es aus dem Radio. Frankfurt gewinnt 5:1. 5:1! Ungläubigkeit. Heißt das…? Verwirrung. Dann wird klar: Auch Rostock hat gewonnen. Fassungslosigkeit. Nein! Der Club abgestiegen! In allerletzter Minute. Der schmächtige Mann weint, meine Schwester und ich sind völlig verstört. An diesem Tag sah ich im Stadion viele Tränen. Grenzenlose Enttäuschung. Und Wut.
Weibliche Fans in der Sonderrolle
Man könnte sagen, Fußball funktioniert wie ein Vergrößerungsglas, das uns unsere Emotionen in Nahaufnahme vorhält. Zu welchen Gefühlsausbrüchen sind wir fähig? Die Unkontrollierbarkeit des Spiels intensiviert unsere Gefühle, so als ob jemand aus ihnen ihre Essenz herauspressen würde.
Doch Fan-Sein ist nicht nur Selbsterfahrung, sondern auch Fremdbegegnung. Im Stadion fachsimpeln wir mit unseren Sitznachbarn, wir wollen uns für “unsere” Mannschaft mit anderen freuen. Schaue ich ein wichtiges Spiel der Bayern ohne meine Mama, müssen wir uns einfach kurz anrufen, sobald ein Tor fällt. Aber ich kann mir auch Schadenfreude nicht verkneifen, wenn Dortmund verliert.
Fußball ist tatsächlich mehr als nur ein Spiel. Es findet nicht in einem sozialen Vakuum statt. Die soziale Sprengkraft ist groß, weil der Sport wenig Platz lässt für Gerechtigkeit und Kompromisse. Fußball lebt seit jeher von Gegensätzen: von Sieg oder Niederlage. Und vom Gegensatz zwischen Mann und Frau.
Anders als in den USA ist Fußball in Europa männlich geprägt. Laut einer Studie der Marktforschungsagentur Sport+Markt aus dem Jahr 2009 hat der FC Bayern einen weiblichen Fan-Anteil von 26 Prozent. Mir stehen also vier männliche Fans gegenüber. Fühle ich mich in einer Sonderrolle? Jein. Sicherlich muss ich mich mehr für meine Leidenschaft rechtfertigen. Manchmal bezweifelt jemand, dass wir Frauen uns tatsächlich für den Fußball interessieren. Für das Spiel und seine Schönheit, für die taktisch klügste Aufstellung.
Fußball und Geschlechterklischees
In meiner Jugend hing an der Schleifchen-Tapete in meinem Zimmer ein Poster des Bayern-Kaders – und eines der Backstreet Boys. Klar finde ich, dass sich Mario Gomez toll kleidet und David Alaba irgendwie süß ist. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich nicht für ihre Stärken als Fußballspieler interessiere.
Das Paradoxe ist: Bisweilen wird die Frage nach dem Geschlecht im Fußball auch ganz klein. Im Stadion oder beim Public Viewing vergessen wir oft typische Geschlechterklischees. Nicht selten erlebe ich Mütter, die neben ihren Kindern hemmungslos schreien. Oder eben Männer, die ihren Tränen freien Lauf lassen.
Fußball ist extremer, kompromissloser als das echte Leben. Trotzdem sagt der Volkssport auch einiges über uns aus. Fußball ist verdichtete Gesellschaft. Gerade deshalb hat er die Fähigkeit, uns einen persönlichen Spiegel vorzuhalten oder gesellschaftliche Probleme aufzuzeigen. Ja, es geht ums Gewinnen oder Verlieren. Aber es ist auch faszinierend, wenn jemand die Kompromisslosigkeit des Fußballs durchbricht.
So wie etwa Didier Drogba. Als der damalige Chelsea-Stürmer mit seiner Mannschaft gegen den FC Bayern das Champions-League-Finale 2012 im Elfmeterschießen gewann und der Traum der Bayern vom Pokalsieg “dahoam” im letzten Moment platzte, sackte Bastian Schweinsteiger weinend auf dem Feld zusammen. Da fasste sich Drogba ein Herz, lief auf ihn zu – und nahm ihn in den Arm. Eine große Geste. Momente wie diesen werde ich in diesem Jahr nicht erleben.